In der Zeit von 2014 bis 2016 besetzte die ISIS-Gruppierung weite Teile von Syrien und Irak. In den Jahren nach dem Sieg gegen die Gruppierung  2017, wurden viele Lager für Binnenvertriebene in Irak geschlossen. Für 1,2 Millionen Binnenvertriebenen begann eine Rückkehr ins Ungewisse. Sie wussten nicht, wie sicher es in ihren Dörfern sein würde, in welchem Zustand sie ihre Geschäften und Häusern vorfinden, und ob sie ihr Land wieder trotz all der Zerstörung wieder bewirtschaften können.

Sechs Jahre später haben es viele von ihnen, unter anderem  Dank ihrer eigenen Widerstandsfähigkeit und der Unterstützung von Hilfsorganisationen wie IRC geschafft, ihre Existenzen wieder aufzubauen und ihre Grundversorgung zu sichern. Der Krieg sorgte aber dafür, dass viele verschiedene religiöse und ethnische Gruppen in Irak sich isolierten und das  Misstrauen zwischen den verschiedenen Gruppen wachsen konnte. Dadurch kommt es immer häufiger zu kommunalen Konflikten. 

Erfahre in diesem Artikel, wie ein Projekt von IRC und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) den Menschen hilft wieder Vertrauen in ihre Nachbarn zu fassen.

Rückkehr ins Ungewisse

Unterkunft in Anbar
Ramadi, Irak. Das Zuhause einer Familie in Anbar. Viele Familien konnten nicht in ihre Häuser zurückkehren und leben jetzt in inoffiziellen Unterkünften wie dieser Siedlung in Anbar.
Foto: Hawre Khalid/IRC

Die von ISIS-Gruppierungen befreiten Gebiete Mosul, Telkaif und Ramadi sind das Zuhause von Menschen arabischer, kurdischer, jesidischer und turkmenischer Herkunft. Sie gehören verschiedenen Glaubensrichtungen an, sprechen unterschiedliche Sprachen und haben oft unterschiedliche politische Einstellungen. Die Zeit unter der Herrschaft des IS hat einen starken Keil zwischen den einzelnen Gruppen der irakischen Bevölkerung getrieben. 

In Umfragen von IRC aus dem Jahr 2021 gaben vor allem junge Menschen im Alter von 18 bis 30 Jahren an, dass sie Schwierigkeiten haben, Vertrauen zu Menschen aus anderen Gemeinden aufzubauen. In den Bezirken Anbar und Ninewa haben die ISIS-Gruppierung den sozialen Zusammenhalt der Bevölkerung nachhaltig bedroht. Das Zusammenleben ist hier geprägt von kommunalen Konflikten, fehlendem Vertrauen in die Nachbarn und den unverarbeiteten Erinnerungen an den Krieg.

Trümmerteile aus dem Krieg gegen den IS
Sinjar, Irak. Trümmerteile aus dem Krieg gegen den IS. In weiten Teilen des Landes sind die Spuren des Krieges immer noch sichtbar.

Während humanitäre Hilfe in vielen Teilen des Landes überlebensnotwendig bleibt, hat eine Konfliktanalyse von IRC gezeigt, dass es neben gesundheitlicher Versorgung, Bargeldhilfen und Schutzprogrammen auch Projekte braucht, die den Zusammenhalt innerhalb der irakischen Gesellschaft wiederaufbauen. Im Jahr 2021 startete deshalb ein Friedensprojekt von IRC und dem BMZ.

Wie arbeiten die lokalen Friedenskomittees?

Seit 2021 können sich Bewohner*innen ausgewählter Gemeinden als Mitglied für Friedenskomitees qualifizieren. Während des Projekts wurden insgesamt sechs Friedenskomitees gestärkt, davon zwei in Baschiq, zwei in Tal Kaif und zwei in Jazeerat Ramadi. In jeder dieser Gruppen gibt es jeweils ein Team mit männlichen und eines mit weiblichen Mitgliedern.

Die Mitglieder werden darin ausgebildet, Konfliktanalysen durchzuführen, Mediationen zu leiten und Gemeindedialoge zu moderieren. Gemeinsam entwickeln sie einen kommunalen Aktionsplan in dem sie Aktivitäten festhalten, die dazu beitragen, die Isolation der einzelnen Gemeinden zu überwinden.

Eine der wichtigsten Komponenten in der Arbeit der Friendenskomitees sind Gemeindedialoge zu denen verschiedene Einwohner*innen der Gemeinden eingeladen werden. Die Gemeindedialoge werden von den Friedenskomitees moderiert und bieten Teilnehmer*innen die Chance, sich auf einer persönlichen Ebene kennenzulernen. Dabei werden bestehende Machtunterschiede thematisiert und Regeln erarbeitet, um sicherzustellen, dass alle Teilnehmer*innen unabhängig von Sprache, Geschlecht, Religion und Alter gleichermaßen zu Wort kommen können.

Die Themen der Gemeindedialoge liefern die Teilnehmer*innen selbst. Oft geht es beispielsweise um Landkonflikte, Probleme mit dem Abwassersystem und die Verteilung von Ressourcen. Nach dem Austausch entwickeln die Teilnehmer*innen gemeinsam mit Vertreter*innen der Friedenskomitees einen Aktionsplan und eine Konfliktanalyse, um bestehende Konflikte anzugehen, bevor sie eskalieren.

Neue Bande unter alten Nachbarn in Baschiqa

In Baschiqa, einer Kleinstadt in der Nähe von Mossul, wurde in den Gemeindedialogen wiederholt die Problematik der fehlenden Arbeitsplätze für junge Menschen thematisiert. Besonders die weiblichen Teilnehmerinnen brachten zum Ausdruck, dass Frauen auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden. Gemeinsam erarbeiteten sie einen Aktionsplan, um auf diese Schwierigkeiten aufmerksam zu machen.

 

Der „Bazar von Baschiqa” - Ein Aufschwung für die lokale Wirtschaft

Eine Idee, die das Friedenskomitee umsetze, war ein Markt in Baschiqa’s größtem öffentlichen Park. 22 lokale Landwirt*innen und Handwerker*innen konnten dort ihre Produkte ausstellen. Der Markt zog Besucher*innen aus der ganzen Region an und zeigte das Potenzial der lokalen Wirtschaft von Baschiqa. Vor allem aber zeigte das Projekt, dass die Einwohner*innen von Baschiqa unabhängig von ihrer religiösen und ethnischen Zugehörigkeit vor den gleichen wirtschaftlichen Herausforderungen stehen und mehr erreichen können, wenn sie zusammenarbeiten, statt um die wenigen Ressourcen zu konkurrieren.

Markt von Baschiqa
Der „Markt von Baschiqa” wurde von dem lokalen Friedenskomitee organisiert, um die Wirtschaft anzukurbeln und lokale Hersteller*innen und besonders von Frauen geführte Geschäfte zu feiern. Der syrisch-orthodoxe Priester Danyal besuchte den Markt gemeinsam mit anderen Vertreter*innen lokaler Glaubensgemeinschaften.

Förderung der interreligiösen Verständigung durch Workshops für Kinder

Teilnehmer*innen Event „Ich bin vielseitig”
Teilnehmer*innen der Veranstaltung „Ich bin vielseitig”, bei der die Kinder von Baschiqa über jesidische, christliche und muslimische Traditionen lernen. Organisiert wurde das Event vom Friedenskomittee der Frauen von Baschiqa für 120 Teilnehmer*innen.

Dieses Verständnis will das Friedenskomitee auch an die Kinder von Baschiqa weitergeben. Daher wurde nach dem Bazar ein Workshop organisiert, bei dem die Kinder über die Rituale und Feste der drei größten Religionen in der Region - dem Christentum, dem Islam und der Religion der Jesid*innen - lernten.

Theaterstück Baschiqa
Die Kinder führen ein Theaterstück über das Zusammenleben der verschiedenen Religionsgemeinschaften von Baschiqa auf.

Zu dem Workshop waren auch einflussreiche, ältere Bewohner*innen eingeladen, die ihre Erinnerungen an das Zusammenleben der verschiedenen Religionsgemeinschaften vor dem Krieg teilten. An der Veranstaltung nahmen mehr als 120 Vertreter*innen von staatlichen Behörden, Aktivist*innen, Medien, NGOs und Religionsgemeinden teil.

Einer von ihnen war der syrisch-orthodioxe Priester Danyal. Er erinnert sich besonders gerne an die Workshopreihe „I am diverse” (deutsch: „Ich bin vielfältig”). „Das Projekt hat die Zusammengehörigkeit verschiedener Religionsgemeinschaften in der Region gestärkt. Viele Organisationen, die mitgemacht haben, sagen, dass wir noch viele weitere Workshops und Gemeindedialoge brauchen, um als Gemeinde wieder zusammenzuhalten, aber ich bin der Meinung, dass wir durch dieses eine Projekt schon zusammengewachsen sind. Jetzt wollen wir die Erfahrungen und Erfolge der Friedenskomitees mit anderen Gemeinden teilen.”

Friedensinitiative „I am Diverse” in Baschiqa
Priester Danyal (links) spricht gemeinsam mit Vertreter*innen anderer Religionsgemeinschaften bei der Friedensinitiative „I am Diverse” in Baschiqa.

Schritte zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit  und des sozialen Zusammenhalts

Veranstaltungen wie die Workshops für Kinder und der Markt von Baschiqa sind kleine, aber wichtige Schritte zur Stärkung der individuellen Widerstandsfähigkeit und des sozialen Zusammenhalts der Menschen in den ehemaligen IS-Gebieten. Sie helfen Rückkehrer*innen, positive, neue Erinnerungen an ihre alte Heimat zu schaffen und der neuen Generation die alten Werte von Toleranz, Akzeptanz und Zusammenarbeit zu vermitteln.

Wie hilft IRC in Irak?

Von Humanitärer Hilfe zu Entwicklungszusammenarbeit und Friedensprojekten

Als die Menschen nach dem Krieg in Irak zu ihren Dörfern und Städten zurückkehrten, waren sie auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben. Jetzt, sechs Jahre später, ist es wichtig, die Menschen in Irak beim Wiederaufbau ihrer Existenz zu begleiten. Dabei arbeitet IRC eng mit lokalen NGOs und Partner*innen aus der Regierung zusammen und unterstützt sie im Umgang mit kommunalen Konflikten. 

Jugendliche, die in den letzten Jahren kurzfristige Hilfe von IRC bezogen haben, stehen jetzt kurz vor dem Einstieg ins Berufsleben. Hier kann Entwicklungszusammenarbeit eine entscheidende Arbeit leisten und junge Menschen auf dem Weg in die Selbstständigkeit begleiten. Wichtig ist hier eine enge Abstimmung zwischen den einzelnen Initiativen, um den Übergang zwischen humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit zu erleichtern. Der sogenannte Humanitarian-Development-Peace (HDP) Nexus bietet einen innovativen Ansatz, um die Zusammenarbeit und Kohärenz zwischen diesen drei Aspekten der internationalen Zusammenarbeit zu fördern.

Friedensprojekte in Ninewa und Anbar

Die Friedenskomitees in den irakischen Bezirken Ninewa and Anbar sind ein Teil des Projekts „Stärkung von Resilienz und Unterstützung bei der Sicherung des Lebensunterhalts und des friedlichen Zusammenlebens von vulnerablen Bevölkerungsgruppen aus den von IS-befreiten Gebieten Mosul, Telkaif und Ramadi, Irak” das IRC gemeinsam mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) umsetzt. 

Neben den Friedenskomitees bietet das Projekt auch Start-Up-Kredite für lokale Betriebe und Förderungen für Unternehmen, die von Frauen geführt werden. Gleichzeitig fördert das Projekt ein lokales Netzwerk aus Vertreter*innen des Landwirtschaftssektors und bietet 30-tägige Weiterbildungen für Landwirt*innen an. Die Umsetzung des Projekts begann im Juli 2021, in der gesamten Projektlaufzeit bis 2025 sollen über 15.000 Menschen erreicht werden.